Wie tickt Argentinien – Ein Erklärungsversuch anhand des WM-Hits: “Ahora nos volvimos a ilusionar“

Geschrieben am 17.12.2022
von Inga von der Stein

Das Lied “Muchachos, ahora nos volvimos a ilusionar” (übersetzt: Leute, wir haben wieder Hoffnung geschöpft) der Band „La Mosca“ hat sich in den letzten Wochen zu einem absoluten Hit in Argentinien entwickelt und ist im Vorfeld des Endspiels der Fußball-WM zwischen Argentinien und Frankreich auf der Plattform Spotify an die Spitze der meistgehörten Lieder des Landes geklettert. Wer Argentinien verstehen will, sollte in das Lied reinhören.

En Argentina nací, 
Tierra del Diego y Lionel
De los pibes de Malvinas
Que jamás olvidaré

In Argentinien bin ich geboren,
dem Land von Diego (Maradona) und Lionel (Messi),
den Jungs von den Malwinen,
die ich niemals vergessen werde.

So beginnt das Lied, das in Argentinien derzeit rauf- und runterläuft, aus jedem Auto schallt und auf der größten Straße von Buenos Aires, der „Avenida 9 de Julio“ beim Einzug Argentiniens ins Halbfinale voller Stolz gesungen wurde, als ob das Land bereits Weltmeister wäre. Das Lied der argentinischen Musikband „La Mosca“ besingt die Fußball-Legende Diego Maradona, der für Argentinien unter anderem mit der „Hand Gottes“ 1986 die letzte Fußball-Weltmeisterschaft gewann.

© Philipp Herzog

Auf gleiche Ebene stellt es Lionel Messi, der durch diese Fußball-WM die Möglichkeit hat, zur Legende zu werden. Es soll die letzte Fußball-Weltmeisterschaft von Messi sein, der wie Maradona die 10 auf seinem Trikot trägt. Die Referenz zu den Malwinen spielt im nationalen Nationalbewusstsein noch immer eine große Rolle:

Im Jahr 1982 griff Argentinien die Falklandinseln an, die aber von den Briten zurückerobert werden konnten. Das Scheitern der argentinischen Armee führte zum Ende der Militärdiktatur im Land. Die Zurückgewinnung der Malwinen wird als Teil der argentinischen Staatsraison angesehen, ist aber kurzfristig genauso unwahrscheinlich wie die Wiederauferstehung von Maradona.

No te lo puedo explicar
Porque no vas a entender
Las finales que perdimos
Cuantos años la lloré

Ich kann es dir nicht erklären
Weil du es nicht verstehen wirst
Die Finale, die wir verloren haben
Wie viele Jahre habe ich geweint.

© f1rstlife / Inga von der Stein

Der Leidensweg der Argentinier im Fußball ist lang. Vor allem vor Deutschland haben die Argentinier Angst. Bei der WM 2006 verlor Argentinien im Viertelfinale gegen Deutschland im Elfmeterschießen, 2010 im Viertelfinale 0:4 gegen Deutschland und schließlich 2014 im Finale der WM in Brasilien erneut – gegen wen wohl? Natürlich, Deutschland. Die verlorenen Spiele stecken Argentinien noch in den Knochen. Fußball ist für die Argentinier mehr als nur Sport. Vor allem, da es außer Fußball im Land nicht viel zu feiern gibt. Es wird eine Inflation von 100 Prozent für das Jahr 2023 vorausgesagt, in den letzten fünf Jahren haben die Argentinier mehr als zwei Drittel ihrer Kaufkraft eingebüßt.

Über 40 Prozent Argentinier lebt unter der Armutsgrenze, jeder Zehnte ist obdachlos.[1] Besonders Kinder sind von der Armut betroffen: sechs von zehn Kindern gelten als arm. Auch politisch steht das Land nicht still: Die derzeitige Vize-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner wurde Anfang Dezember aufgrund von Korruption zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren verurteilt. Das Gerichtsurteil heizt die Polarisierung im Land weiter an. Die Prognosen für die Zukunft sind ebenfalls düster: Das Wirtschaftswachstum stockt, es gibt aufgrund der Inflation kaum Investitionen. Das ehemalige Einwandererland ist zum Auswandererland geworden. Es wird geschätzt, dass über eine Million Argentinier im Ausland leben und von dort aus die argentinische Nationalmannschaft anfeuern.

Pero eso se terminó
Porque en el Maracaná
La final con los brazucas
La volvió a ganar papá

Aber das ist vorbei
Denn im Maracana
Das Finale mit den Brazucas (Brasilianern)
Papa hat wieder gewonnen

© Philipp Herzog

Hoffnung im Fußball schöpften die Argentinien erst wieder 2021, als Argentinien im Maracanã-Stadium in Rio de Janeiro die „Copa América“ gewann. Die Spieler wurden während dieser Meisterschaft von der Kamera begleitet, kurz vor dem Start der Fußball-WM dieses Jahr wurde diese auf Netflix veröffentlicht, mit dem Titel „Sean enternos“ (Von ganzem Herzen dabei). Außer Kommerz hat diese Serie auch noch einen anderen Hintergrund: Immer wieder wird den Spielern vorgeworfen, sie würden die Verbindung zu ihren Landsleuten verlieren. 

Von den 26 ausgewählten Spielern des argentinischen Nationalteams spielt nur ein Ersatztorwart bei einem argentinischen Club. Alle anderen Spieler sind seit Jahren in Europa, Messi selbst wanderte mit nur 14 Jahren nach Spanien aus, um beim FC Barcelona zu spielen. Viele der Spieler besitzen europäische Pässe und bezahlen in Argentinien keine Steuern. In der Netflix-Serie geben sich die Spieler daher betont bodenständig und trinken das Nationalgetränk Mate. Um der Inflation zu entkommen, leben und verdienen nicht nur Fußballer, sondern auch viele andere gut gebildete Argentinier ihr Geld nun im Ausland. Zudem haben viele Argentinier mit Wohnsitz in Argentinien im Ausland Konten, die unbehelligt vom argentinischen Fiskus sind. Ein enormer Verlust an Steuereinnahmen, welche notwendig wären, um die hohen Staatsausgaben zu finanzieren.

Muchachos
Ahora nos volvimos a ilusionar
Quiero ganar la tercera
Quiero ser campeón mundial

Leute
Jetzt haben wir wieder Hoffnung geschöpft
Ich möchte zum dritten Mal gewinnen
Ich möchte Weltmeister werden

Argentinien gewann bisher zweimal eine Fußball-WM: 1978 sowie 1986 und wartet nun bereits seit 36 Jahren auf einen Titel. Die Chancen stehen gut. Der Fußball überdeckt für kurze Zeit die Probleme im Land und lässt die Menschen ihre alltäglichen Probleme vergessen. Gefeiert wird mit allem, was man finden kann: Billige T-Shirts anstatt Originaltrikots, das Sprayen von Waschmittel anstatt Konfetti, außerhalb von Kneipen stehen und das Spiel mitverfolgen, anstatt drinnen etwas zu kaufen. Und dann natürlich das ausschweifende Feiern am Obelisken auf der Avenida 9 de Julio.

Endlich können sich die Argentinier so stolz fühlen, wie sie es mal waren. Argentinien galt Anfang des 20. Jahrhunderts als „Kornkammer der Welt“, die Franzosen nutzten das Sprichwort „reich wie ein Argentinier.“ Von diesem Reichtum ist nicht viel geblieben. Selbst wenn Argentinien die WM gewinnt, wird der Jubel bald wieder verebben und die wirtschaftlichen Probleme werden die Menschen wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Doch bis dahin haben sich die Argentinier einen Moment Hoffnung verschafft, und diese benötigt das Land, um das Ruder wieder herumzureißen und auch abseits vom Fußball Erfolge zu feiern.


[1] https://www.ambito.com/economia/pobreza/segun-la-uca-la-alcanzo-al-431-y-afecta-mas-18-millones-argentinos-n5600442